Nadja Hormisch
„Blood, sweat and tears“
Taschentücher sind Gebrauchsgegenstände und kommen besonders in schwierigen Zeiten häufig zum Einsatz.
Die Corona-Krise ist für viele ganz sicher so eine schwere Zeit, die alte Gewissheiten und vermeintliche Sicherheiten jeder Art auf eine harte Probe stellt. Manchmal habe ich sogar den Satz „Das ist ja (fast) wie im Krieg!“ gehört oder gelesen. Obwohl es meines Erachtens da doch noch ganz gewaltige Unterschiede gibt.
Mir fiel aber dennoch assoziativ die „Blood, sweat and tears“-Rede von Winston Churchill (gehalten im brit. Unterhaus im Mai 1940) ein, der sein Volk angesichts des Zweiten Weltkriegs schonungslos und ehrlich auf das Schlimmste einschwor, nämlich auf Härten, Leiden und mühselige Veränderungen. Ein Taschentuch wird ganz praktisch mit diesen Dingen konfrontiert.
Dieses Taschentuch gehörte meiner Großtante Eva von Wirth (1910-2008), genannt Evi. Ihr Leben umspannte fast ein ganzes Jahrhundert und sie erlebte gleich zwei Weltkriege und auch mehrere Pandemien. In meiner Kindheits-Erinnerung war sie immer mit mindestens einem Stoff-Taschentuch und einem Fläschchen 4711 Echt Kölnisch Wasser „bewaffnet“. Dieses Baumwoll-Taschentuch begleitete sie, dem Design nach zu urteilen, vermutlich ungefähr seit den 1960er oder 1970er Jahren. Mitte der 1990er Jahre zog Tante Evi in ein Seniorenheim und kennzeichnete ihre gesamte Wäsche, auch die Taschentücher, mit ihren Namensetiketten. Irgendwann später, als auch ihr Papiertaschentücher dann praktischer erschienen, gab sie mir einen Stapel ihrer Stofftaschentücher mit.
Dieses Tuch ist zugegebenermaßen nicht das schönste aus dem Stapel, dazu auch schon etwas fadenscheinig, weich und verschlissen, aber mir imponierte der geordnete, ordentlich gemusterte Rand, den ich sinnbildlich zerbröckeln und zerbröseln konnte. Sehr negativ, ich weiß … aber es spiegelt einfach die momentane Lage. Als geheimen Hoffnungsschimmer verwendete ich zum Besticken ausschließlich weiche Baumwoll-Stopfgarne, die in der Regel dazu verwendet werden, kaputte Dinge zu reparieren.
Evi, die eine leidenschaftliche und perfektionistische Handarbeiterin ganz alter Schule war, würde angesichts ihres Taschentuchs möglicherweise die Nase rümpfen oder zumindest ein erstauntes oder ratloses „Oh!“ äußern. Aber es ändert sich eben alles: auch die Prioritäten.
Nadja Hormisch
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