Nadja Hormisch
„Kranich“
Auch dieses schlichte, weiße Taschentuch gehörte meiner Großtante Evi. Ihre Geschichte ist noch längst nicht zu Ende erzählt.
Sie wurde 1910 in der Westeifel nahe der luxemburgischen Grenze geboren und war das drittjüngste Kind ihrer Eltern, die insgesamt 12 Kinder hatten.
Von allen Geschwistern war sie das zärteste und empfindlichste. Häufig war sie krank. Interessanterweise sollte sie jedoch alle ihre Geschwister bei weitem überleben.
Evi hatte das große Glück, einen Mann zu finden, der feinfühlig und rücksichtsvoll war und sie aufrichtig liebte. In der ersten Zeit ihrer Ehe lebten sie im Haus der Schwiegermutter in Köln. Mit 28 Jahren erkrankte Evi an Kinderlähmung und konnte sich ab diesem Zeitpunkt nur noch humpelnd bzw. hinkend und relativ langsam fortbewegen. Auch benötigte sie zeitlebens zwei verschiedene, speziell angefertigte Schuhe, die klobiger aussahen als gewöhnliche Schuhe. Ihr Handicap führte dazu, daß sie von Schwiegermutter und Schwägerin drangsaliert (heute würde man sagen „gemobbt“) wurde. Also suchten sich Evi und Hans ein eigenes kleines Haus mit Garten in Köln-Ehrenfeld. Gerne hätten sie Kinder gehabt, blieben aber kinderlos.
In den 1970er Jahren war ich als Kind sehr oft in Köln bei Evi und Hans in den Ferien. Sie zeigten mir alle Sehenswürdigkeiten, und besonders gerne ging ich Arm in Arm eingehakt mit Evi in den Zoo und in die Flora, den botanischen Garten von Köln. Für mich war es normal, daß sie hinkte, ich kannte sie ja nicht anders. Ich fühlte aber schon damals, daß sie wegen ihrer Gehbehinderung große Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl hatte und auch zu Depressionen neigte. Das zog sich wohl durch ihr ganzes Leben. Dennoch gab sie sehr auf sich acht und war oberhalb der wuchtigen orthopädischen Schuhe immer elegant gekleidet, tadellos gepflegt und mit einem Hauch Parfum eingesprüht.
Als sie 2008 im Alter von knapp 98 Jahren starb und wir an ihrem offenen Grab standen, flog hoch oben eine große Kranichformation über uns hinweg. Es war Anfang März, und die Kraniche zogen nach Norden. Seitdem stelle ich mir vor, daß sie mit diesen eleganten und faszinierenden Vögeln fortgeflogen ist – mit gesunden Beinen und Füßen – und selbstbewußt, wild und frei.
Nadja Hormisch
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